# Zum ehrfürchtigen Elch (2012)

von Unbekannt

Die letzten Sonnenstrahlen blitzten hinter den großen Tannen hervor. Laternen beleuchteten das kleine Dorf. Die meisten Bewohner Soldheims nahmen in diesem Moment ihr Abendbrot zu sich. Leichter Nebel zog von dem kleinen, westlich gelegenen Weiher auf. Die Wachen des adligen Beamten Kurt Bleischaft patrouillierten um dessen imposantes Anwesen, das direkt neben dem beschaulichen Marktplatz thronte.

Harald verabschiedete sich von seiner Familie. Langsam öffnete er die Tür. Haralds goldenes Haar und sein Bart, die seinen Namen Goldbart begründeten, glänzten leicht im Licht der Laternen, die den Marktplatz beleuchteten. Schnell und leise begab er sich in Richtung des kleinen Weihers. Glühwürmchen flirrten durch die lauwarme Abendluft. Es war Sommer.

Hinter dem Weiher lag ein großer, dichter Mischwald. Harald lief ein paar Minuten, dann erreichte er sein Versteck. In einem Erdloch hatte er einen aus Weidenholz geschnitzten Kurzbogen versteckt. Bleischaft, der bruganische Beamte, der für die Einfuhr der Steuern zuständig war, hatte den Bewohnern Soldheims den Besitz von Waffen untersagt. Nur der registrierte Jäger Feraldor Bungram durfte Waffen besitzen. Und natürlich die Wachen des Beamten.

Die letzten Wochen hatte Harald stets im Wald an seinem Bogen und den dazugehörigen Pfeilen gearbeitet. Gestern wurde er fertig. Heute würde er auf die Jagd gehen. Der ortsansässige Schmied war gut mit Harald befreundet und hatte ihm Pfeilspitzen und einen Verschluss für den Köcher hergestellt. Harald befestigte den Köcher auf seinem Rücken und nahm den Bogen in die linke Hand. Nachdem er das Erdloch wieder verdeckt hatte, begab er sich tiefer in den Forst. Der Ruf einer Eule erschreckte ihn. Hie und da hörte man ein Knacken oder Rascheln im Dickicht. Der Vollmond erhellte die dünnen Äste und Zweige. Am Firmament konnte Harald funkelnde Sterne beobachten.

In der Ferne hörte er die Rufe eines Wolfsrudels, das wohl auf einem Felsen den Mond anheulte. Der Wald verdichtete sich, Moose und Farne bedeckten den Boden und große, alte Eichenbäume wuchsen imposant gen Himmel.

Nach mehr als einer Stunde erreichte Harald eine sehr große Lichtung, die mit kniehohen Gräsern und einigen Sträuchern bewachsen war. Ein Flüsschen bahnte sich seinen Weg durch diese malerische Landschaft. Einige Zikaden waren zu vernehmen und ein großer Adler kreiste über der Graslandschaft. Erst am Horizont konnte man wieder den Wald sehen. Düster und ruhig lag er da. Haralds Blick schweifte über die Landschaft, wieder auf das kleine Flüsschen zu.

Ein großer, imposanter Elch trank aus dem kühlen Nass. Er war verletzt. An seiner rechten Flanke klaffte eine große Bisswunde, die Harald sogar aus großer Entfernung wahrnehmen konnte. Das große Schaufelgeweih war blutverschmiert.

Langsam, nicht hektisch, kniete sich Harald auf den Boden. Er hatte Glück. Ein kühler Windhauch kam aus der Richtung des imposanten Tieres. So konnte der Elch ihn nicht mit seiner feinen Nase erkennen. Langsam robbte Harald in Richtung des Elchbullen. Wieder hörte er die Wölfe in der Ferne. Harald war nun etwa hundert Fuß von dem großen Pflanzenfresser entfernt. Langsam ging er in die Hocke und spannte den Bogen. Harald war sich sicher, dass ein Pfeil nicht reichen würde. Zu schwach war seine Waffe, zu schlecht die Pfeile. Würde er überhaupt treffen?

Früher, als Bleischaft noch nicht in Soldheim gewesen war, da hatte er ein bisschen Schießen können. Auch gestern hatte er geübt. Doch reichte das? Die Sehne fest in der Hand und den Schaft des Bogens umklammert schlich Harald noch ein paar Fuß weiter in Richtung des Flüsschens. Dann kniff er sein linkes Auge zu, zielte und lies die Sehne los. Ein zischendes Geräusch begleitete den Pfeil. Wie in Zeitlupe sah Harald das Geschoss durch die Luft gleiten. Er hatte die Sehne bis zum Anschlag gespannt gehabt und der Pfeil erreichte eine hohe Geschwindigkeit – und verfehlte sein Ziel. Etwa drei Fuß neben dem Elch schlug der Pfeil in das kühle Wasser ein und trieb mit diesem fort. Aufgeschreckt humpelte der Elch davon. Man merkte deutlich, wie ihm die Verletzung zu schaffen machte.

Harald spannte seinen Bogen erneut. Diesmal verfehlte das Geschoss sein Ziel nicht. Der Pfeil schlug in die rechte Flanke ein und bohrte sich etwa drei Zoll tief durch das Fell. Schnell folgte ein zweiter Schuss. Auch dieser traf das verwundete Tier. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Elch verenden würde. Harald folgte dem verletzten Tier. Dieses bewegte sich immer langsamer. Harald konnte nun erkennen, dass auch die Beine verletzt waren. Zum vierten Mal spannte er den Bogen. Er war nun nur noch fünfzig Fuß entfernt. Der vierte Pfeil traf den Elch hinter das linke Schulterblatt. Die Vorderbeine des einst majestätischen Bullen knickten ein und der Elch strauchelte, dann fiel er ins Gras. Harald rannte auf den Elch zu und erlöste das verletzte Tier mit einem kleinen Messer, das er bei sich zu tragen pflegte.

Erst jetzt nahm Harald wahr, wie stark die Verletzungen des toten Tieres tatsächlich waren. Große Bisswunden, sowie Spuren von Krallen übersäten den Körper des Elches. Die Wunden waren frisch. Harald mutmaßte, dass dieser Elch wohl einen Kampf mit einem ganzen Rudel an Wölfen bestritten hatte. Auch ohne seine Pfeile wäre dieses Tier wohl noch in dieser Nacht gestorben. Der erfolgreiche Jäger musterte das erlegte Tier. Er hatte es mit einem riesigen Exemplar zu tun. Die Widerristhöhe betrug mehr als sechs Fuß. Mit seinem Messer schnitt Harald mehrere Stücke aus der Lende des erlegten Tieres, die er mit Katroikblättern umwickelte und dann in seinen Rucksack steckte. Was würde er mit dem Rest des erlegten Tieres tun? Eigentlich hatte Harald ein Reh oder einen Hasen schießen wollen. Dass er einen Elch traf, war großes Glück. Aus dem Wald nahm er mehrere Äste mit denen er den Kadaver bedeckte. Morgen würde er mit seiner Familie wiederkehren, um den Elch weiter auszunehmen. Das Geweih gedachte Harald zu verkaufen. Doch wie sollte er es anstellen? Soldheim war dafür zu klein. Außer Bleischaft konnte sich niemand ein Geweih leisten.

Harald begab sich nach Hause. Er würde eine Nacht darüber schlafen und morgen seiner Familie von seinem Jagderfolg Kunde erstatten. Als er Zuhause ankam waren die Sterne bereits dem ersten Morgenrot gewichen. Erschöpft, aber mit sich zufrieden lies sich der glückliche und erfolgreich Jäger ins Bett fallen.

Fanfaren ertönten. Harald Goldbart wurde aus seinem tiefen Schlaf gerissen. Es war bereits nach Mittag. Schnell zog er sich an und begab sich nach draußen. Ihm bot sich ein prächtiges Bild. Auf dem Marktplatz glitzerten Rüstungen von zahlreichen, sich dort befindlichen Reitern. Direkt erkannte er das Wappen des heldanischen Herzogs; ein großer Langbogen mit mehren Pfeilen und einem goldenen Elchgeweih darunter auf dunkelgrünem Grund. Die Einwohner Soldheims waren alle aus ihren Häusern gekommen und beobachteten das Spektakel, dass sich ihnen bot. Mehrere, von Bisons gezogene Lastkutschen standen auf dem Marktplatz. Auf dem Rücken der meisten Reiter, die nicht etwa auf Pferden, sondern auf Elchen ritten, erkannte Harald die Sonne reflektierende Langbögen von herausragender Qualität.

»Der heldanische Herzog ist da!« hörte man die Menge rufen. Erneut ertönten Fanfaren und die Menge wurde still. Ein stämmiger, offensichtlich höher gestellter Offizier mit polierter Rüstung, dunkelgrünem Umhang, einer Mütze aus Fuchspelz und rauer, dominanter Stimme begann zu sprechen.

»Der Herzog von Heldan besucht das benachbarte Großherzogtum Bruga.«, begann er, wobei er die letzten beiden Wörter mit großer Verachtung aussprach, »Der König von Djorikstet will, dass sich die beiden größten Herzogtümer Djorikstets Bruga und Heldan entgegenkommen. Dazu soll ein neuer Vertrag unterzeichnet werden. Auch die Grenzstreitigkeiten sollen beigelegt werden.« Er machte eine Pause.

»Da sich Soldheim genau zwischen Bruga und dem glorreichen Heldan befindet, soll es zu einem politisch neutralen Ort werden, der autonom agiert und keine Steuern bezahlen muss.« Die Wörter »politisch neutral», »autonom« und »agieren« verstanden die allermeisten Bewohner Soldheims zwar nicht, dass sie keine Steuern mehr zu bezahlen hätten, allerdings schon.

Jubel brach aus. »Der heldanische Herzog begrüßt dieses Vorhaben zwar nicht, doch leistet er als aufrichtiger Gefährte natürlich seinem König die Treue. Noch heute wird der bisher für die Steuern zuständige, aus Bruga stammende, Beamte Kurt Bleischaft Soldheim verlassen. Die bisher entstandenen Steuerschulden sind aufgehoben. Sein Anwesen geht in den Besitz des Königs über. Die Bürger Soldheims haben innerhalb von zwei Wochen einen Dorfrat zu bestimmen. Sie dürfen ab jetzt wieder Waffen besitzen, Handel treiben und jegliche Form von Arbeit verrichten, für die früher eine Registration und eine Lizenz von Nöten waren. Sie sind außerdem angehalten, den beiden Herzogtümern keinen Schaden zuzuführen. Des weiteren haben sie dem König die Treue zu leisten, obgleich sie, wie erwähnt, von der Steuerschuld befreit sind. In zwei Wochen wird, so berichten uns königliche Boten, eine königliche Delegation eintreffen, die nachschauen wird, ob den eben genannten Forderungen folge geleistet wird. Ist dies nicht der Fall, so müssen die Bewohner Soldheim verlassen und entweder nach Djorikstet oder in eins der großen Herzogtümer ziehen. Denn weder der edle heldanische, noch der verlogene brugaische Herzog wollen dem anderen Herzogtum die Kontrolle über dieses Dorf überlassen. Steuern kann der König aber nur verlangen, wenn eines der beiden Herzogtümer einen Beamten entsandt. Da dies nicht möglich ist, seid ihr, auch wenn ihr es nicht verdient habt, von den Steuern entsagt.« Bleischaft, der auch unter der Menge war, schaute bei den Worten des ihm verhassten heldanischen Offiziers verächtlich. »Dieses Dokument,« dabei hielt der Heldaner ein großes Stück Pergament in die Luft, das mit dem königlichen Siegel versehen war, »ist bis zur Ankunft der königlichen Delegation für jeden sichtbar auf dem Marktplatz aufzubewahren. Es enthält all die Informationen, die ich eben kundgetan habe. Wir werden nun weiterziehen. Eine Nachhut wird allerdings hier bleiben und dafür Sorgen, dass dieser Beamte,« dabei zeigte der Offizier mit einem abwertenden Grinsen auf Bleischaft, der von seinem Leibwächtern umringt, einen ebenso verächtlichen Blick zurückwarf, »noch heute dieses Dorf verlässt und nach Bruga zurückkehrt. Dies ist ein königlicher Befehl!« Nach seiner Rede bestieg der Offizier seinen gepanzerten Elch, gab den anderen Soldaten ein Zeichen und sie setzten sich in Bewegung.

Ein nicht minder stämmiger, allerdings kleinerer Offizier blieb mit etwa zwanzig Mann zurück und ging, von staunenden Blicken der Bewohner Soldheims verfolgt, auf Bleischaft zu.
»Nun aber los!« knurrte er dem Beamten entgegen.

»Elendes Heldaner-Pack. Hurensohn!« fauchte dieser zurück und ging auf sein Anweisen zu, von seinen Leibwächtern, die große Langschwerter und Kriegshämmer trugen, begleitet. Derartige Beleidigungen lies sich der kleine Offizier nicht gefallen. Er hob seinen Arm und bewegte ihn mit strammer, wuchtiger Bewegung, die Finger gespreizt, nach vorne, in die Richtung von Bleischaft. Direkt folgten seine Männer dem Befehl, zückten ihre Langbögen und zielten. Zwei Sekunden später fielen vier Leibwächter, von im Winde sausenden Pfeilen niedergestreckt, neben und hinter Bleischaft zu Boden. Dieser warf sich mit vor Angst erfüllten Augen auf den Boden. Die heldanischen Soldaten zückten ihre Kurzschwerter und gingen auf die verbliebenen, ihr Objekt schützenden, Leibwächter los. Ein besonders großer Leibwächter, mit rotem Gesicht und einem dicken Wams aus Elchleder zertrümmerte einem der heldanischen Krieger den Kopf. Blut spritzte auf den hellen Sand des Marktplatzes. Einen Wimpernschlag später, ragten mehrere Pfeile aus dem Gesicht des Leibwächters, der daraufhin taumelnd und mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Boden ging. Die verbliebenen Leibwächter stellten sich schützend um Bleischaft. Dieser saß, klein und kümmerlich, zwischen seinen Wachen auf dem Boden. Der heldanische Offizier nahm ein Wurfmesser aus seinem Gürtel und schleuderte es auf einen Leibwächter, der frontal vor dem Beamten stand. Die kühle, leicht rötlich glänzende Klinge durchbohrte die Kopfhaut des Getroffenen und lies diesen rückwärts auf Bleischaft fallen. Drei weitere Leibwächter kamen aus dem Anwesen des Beamten angerannt. Einer von ihnen warf seine Hellebarde in Richtung der Heldaner. Die lange Waffe traf nicht mit der Spitze, schleuderte aber zwei kleine Soldaten zu Boden. Weitere Pfeile der Heldaner beendeten das Spektakel. Der heldanische Offizier ging mit hasserfüllten Gesicht auf Bleischaft zu und brüllte diesen an.

»Du dreckiger Bastard!« Dann nahm er sein Kurzschwert, zog mit der linken Hand den Kopf Bleischafts, dessen Gesicht kreidebleich geworden war, nach hinten und schnitt dem Beamten mit einer geschmeidigen Bewegung die Kehle durch. Eine Fontäne aus Blut spritzte aus den Arterien und Bleischaft sackte in sich zusammen. Die übrig gebliebenen Heldaner beseitigten die Leichen und trugen den Bewohnern auf, diese zu bestatten. Dann begaben auch Sie sich, ihren Landsmännern folgend, in Richtung Bruga um dort diplomatische Verhandlungen durchzuführen. Der Tod eines brugaischen Kaufmanns dürfte diese Angelegenheit sicherlich nicht vereinfachen.

Zusammen begruben die Bewohner Soldheims die Leichen der Leibwächter und der Heldaner auf dem kleinen Dorffriedhof, neben der Tylla-Kapelle. Auch Kurt Bleischaft wurde beigesetzt. Danach widmete man sich aufmerksam den königlichen Forderungen. Das Dokument schrieb vor, dass der Dorfrat aus zehn Mitgliedern und einem Oberhaupt zu bestehen habe. Sind sieben der zehn Dorfratsmitglieder nicht mit diesem zufrieden, wählen sie ein neues. Jedes Jahr muss ein Mitglied einen Nachfolger bestimmen. Das Oberhaupt müsse sich, so das königliche Dokument weiter, vor dem König für das Handeln des Dorfes rechtfertigen können. Soldheim dürfe und solle wachsen, allerdings nach Westen und Osten gleichermaßen stark, so dass sie Gebietsverluste für Bruga und Heldan gleich bleiben. Königliche Delegationen jedweder Art müssen von Soldheim bewirtet werden. Wird keine standesgemäße Bewirtung gewährt, so ist das Dorfoberhaupt abzusetzen und ein neues zu wählen. Das ehemalige Oberhaupt muss zur Strafe als Diener der Delegation des Königs folgen. Feraldor der Jäger, von allen hoch angesehen ergriff das Wort.

»Ich denke unser kleines Dorf, das den schönen Namen Soldheim trägt, steht vor einer große Herausforderung! Wir sind von der Steuerlast befreit. Das ist eine tolle Errungenschaft. Nun müssen wir eine neue Ordnung aufbauen, die gerecht ist! Unsere Vorräte sind begrenzt und ich weiß nicht, wie wir in zwei Wochen eine Delegation zufrieden stellen können. Jeder sollte seinen Teil dazu beitragen, den König zufrieden zu stellen. Seht doch nur, was mit Bleischaft geschehen ist, der gar nur eine Beleidigung von sich gegeben hat. Sicher; sein Tod ist verdient, doch wollen wir so enden?«

Harald nutzte die Pause Feraldors und ergriff selbst das Wort. »In der gestrigen Nacht zog ich los auf die Jagd. Ich hatte großes Glück und konnte einen gewaltigen Elchbullen erlegen. Sein Fleisch sollte ein angemessenes Mahl für eine königliche Delegation darstellen!«

Verwunderte Blicke wurden ihm zugeworfen, dann klatschte es Beifall. »Ja! Solche Männer brauchen wir!« ertönte es aus der Menge. »Nun... ich zeige mich wirklich beeindruckt von diesem jungen Mann. Sollte es denn stimmen, dass er wirklich einen Elchbullen erlegt hat. Woher hast Du überhaupt eine Waffe?« sagte Feraldor.

»Meiner Familie ging es unter Bleischaft sehr schlecht. Unsere Steuern hätten wir nicht bezahlen können,« begann Harald, auf den nun zahlreiche Blicke gerichtet waren, »daher habe ich heimlich im Wald hinter dem kleinen Weiher einen Bogen gebaut. Dendon, der Schmied hat mir dabei geholfen...«

»Nun. Das zeugt von großem Mut und großer Verantwortung« mischte sich nun Kyrald Lachsfänger, der Fischer, ein.

»Ach, der Junge labert doch nur. Der Bursche hat doch keine Ahnung. Hat wahrscheinlich nichtmal die Kraft, einen Pfeil zu verschießen. Wenn er wirklich einen Elchbullen geschossen hat, soll er mein Anwesen kriegen! Das glaube ich nun wirklich nicht« tönte es aus einer der hinteren Reihen von einem alten Fettsack.

»Ich wäre vorsichtig,« begann nun Hrorbir, dem die ortsansässige Herberge gehörte, »der Junge hat es drauf! Habe ihn ein paar Mal Holz hacken sehen. Der hat eine Kraft, das sage ich euch. Ich glaube ihm!«

»Wir werden sehen. Na los, Harald: führe uns zu deinem erlegten Tier« forderte nun wieder Feraldor. »Folgt mir!« sagte nun Harald, der inständig hoffte, dass nicht wilde Tiere den Elch gefunden hätten.


Durch die Abdeckung mit Ästen war das erschossene Tier unentdeckt geblieben. Stolz präsentierte Harald seinen Fang. Zusammen wurde das Tier auf einer von einem Pferd gezogenen Barre nach Soldheim transportiert, wo es vom fachkundigen Jäger Feraldor ausgenommen wurde.

»Seht, ich möchte, dass unser Dorf frei bleibt. Daher verteile ich das Fleisch an die Familien ganz Soldheims. Denn nur wer bei Kräften ist, kann auch Arbeiten!« verkündete Harald und wurde dabei bejubelt. Die meisten Bewohner hatten schon lange kein richtiges Stück Fleisch mehr verspeist.

Alsbald stellte sich die Frage, wer denn nun Dorfoberhaupt und Mitglied des Dorfrats werden solle. Erstaunlicherweise wurde Harald von mehreren Personen für das Dorfoberhaupt vorgeschlagen.

»Der Junge hat Mut und Ehre bewiesen!« argumentierte ein alter ehemaliger Söldner.

»Ja und er hat das Fleisch gerecht verteilt. Wer macht so etwas denn heute noch?« pflichtete ihm eine alte Frau mit Flickenkleidung bei.

Feraldor ergriff das Wort. »Ich stimme euch zu. Harald imponiert mir. Er ist noch jung, doch ist das etwas schlechtes. Er hat bereits, so scheint es mir jedenfalls, ein gutes Ehrgefühl und einen Sinn für Gerechtigkeit. Das ist es doch, was wir brauchen. Und sollte er seinem Amte nicht gerecht werden, so kann ihn der Rat, dem ich im Übrigen gerne angehören würde, ja immer noch absetzten. Ich denke, dass ist im Einvernehmen aller?!«

Die Worte des Jägers fanden Zuspruch. Der Dorfrat wurde sodann auch besetzt. Feraldor, Hrorbir, der Fischer Kyrald, der Tischler Helmaer, Rega (die Frau Hrorbirs) und fünf weitere bildeten nun den Rat.

»Ich danke euch sehr für euer Vertrauen. Mir ist bewusst, dass Dorfoberhaupt zu sein, keine leichte Aufgabe ist. Ich werde mein bestes tun und im übrigen auch auf das Anwesen des wehrten Herrn verzichten, der es mir anbot« sprach Harald an die Bewohner Soldheims.

»Pah! Das war sowieso nur ein Scherz« blaffte der Fettsack und zog sich zurück.


Harald, der nach der Ernennung zum Dorfoberhaupt mit tiefem Stolz erfüllt war, kümmerte sich nun um die Geschicke Soldheims. In zwei Wochen würde die königliche Delegation nach dem Rechten sehen. Bis dahin musste es in Soldheim genügend Vorräte geben. Harald, ging über den Marktplatz und gab jedem Dorfbewohner Aufgaben. So sollte Kyrald Lachsfänger, der Fischer, im Weiher und auch außerhalb des Dorfes Fische fangen. Seine Frau würde diese dann zubereiten. Den Tischler Helmaer beauftragte Harald damit, die Einrichtung der kleinen Herberge “Zum kleinen Tische” auszubessern. Deren Inhaber, Hrorbir Hangbrison sollte sich um ein einen guten Speiseplan kümmern. Harald gab dem Schmied die Aufgabe, die Messer und die Gabeln der eben genannten Herberge zu polieren. Der Frau Hrorbir Hangbrisons, Rega Hangbrison trug Harald auf, die Zimmer der Herberge herauszuputzen. Weitere Dorfbewohner kümmerten sich um die Sauberkeit des Marktplatzes, Handwerker besserten kaputte Häuser aus. In nur anderthalb Wochen wurde aus dem kleinen Dorf ein zwar immer noch kleines, aber dafür herausgeputztes, sauberes Dorf. Harald, der noch Fleisch vom Elch übrig hatte, übergab dieses Rega, die als beste Köchin Soldheims galt, damit sie daraus für die königliche Delegation Elch-Ragout zubereiten würde.

Zwei Tager später traf die königliche Delegation ein: 17 Reiter mit dem blauen Eisbär auf silbernem Grund auf ihrer Brust, dem Wappen Djorikstets. Daneben vier große Kutschen, gezogen von jeweils zwei Bisons, beladen mit Ausrüstungen, Zelten und Proviant. Ihr Anführer, ein großer, dünner und bärtiger Leutnant mit einer großen Narbe auf der rechten Wange stieg von seinem Pferd. Er trug einen Pelzmantel mit zahlreichen Taschen. Sein Kopf schmückte eine Biberfellmütze. Die Haut war vom nördlichen Wetter rau geworden. Mit großen Schritten begab er sich in die Mitte des Markplatzes, wo er das königliche Dokument erspähte, dieses kurz überflog und dann abriss.

»Wer ist das Dorfoberhaupt?« fragte er mit einer leicht heiseren Stimme die Dorfbewohner Soldheims, die ihn interessiert anblickten. Harald, der auch in der Menge stand, machte mehrere Schritte nach vorne und reichte dem königlichen Leutnant die Hand.

»Ich bin das Dorfoberhaupt,« begann er in ruhigem, lauten Tonfall zu sprechen und fuhr dann fort «und das ist der Dorfrat!« Dabei machte er eine Geste und die zehn Mitglieder des Dorfrats begaben sich aus der Menge hinter ihr Oberhaupt. Zufrieden schmunzelte Harald.

»Wie ich sehe seid ihr den königlichen Forderungen nachgekommen und habt einen Dorfrat samt Oberhaupt ernannt. Ich hoffe, bei der Ankunft der heldanischen Delegation gab es keine Vorkommnisse?!« »Der bisher für die Steuern zuständige Bruganer Kurt Bleischaft beleidigte die Heldaner – und fand alsbald einen schmerzvollen Tod« antwortete ihm Harald.

»Es hätte mich gar gewundert, wenn keine Probleme vorgekommen wären. Nun, es betrifft euch zwar nicht, doch die Situation zwischen Heldan und Bruga ist nicht gerade entspannt. Der Tod eines brugaischen Adligen dürfte für weitreichende Verstimmungen sorgen. Doch wie dem auch sei: Im Namen des Königs ersuchen wir eure Gastfreundschaft, die ihr, so hoffe ich doch, uns als königlicher Delegation, gerne gewährt.«

Harald Goldbart bejahte die Forderung des Leutnants und führte diesen in die Herberge »Zum kleinen Tische« in der bereits alles vorbereitet war. Die Tische waren gedeckt mit zahlreichen Speisen. Die Pferde der Reiter wurden unter einem Holzbeschlag, der als provisorischer Stall diente, festgebunden und dort mit Wasser und Futter versorgt.

Den Gesichtern der beherbergten Männer konnte man anmerken, dass es ihnen schmeckte.

»Ich will ehrlich zu euch sein», begann der königliche Leutnant, der sich am Abend als Kone Turson vorgestellt hatte, »eure Bewirtung hat mir und meinen Männern wirklich ausgesprochen gut gefallen. Es freut mich, dass, abseits der Streitigkeiten zwischen Bruga und Heldan, die wir im Namen des Königs zu schlichten versuchen, es auch noch Menschen gibt, die unsere Erwartungen übertreffen. Als der König mich hierher schickte, um nachzuschauen, ob alles so verlaufen ist, wie erhofft, so erwartete ich nichts gutes. Ich dachte, ich würde ein Dorf auffinden, indem das Anwesen des ehemaligen Beamten hart umkämpft wird. Ein Dorf, in dem es keinen Rat gibt, weil die Machtgier zu stark ist. Ein Dorf, das aufgrund fehlender Kontrolle nicht funktioniert. Dagegen treffe ich ein Dorf an, indem ein zwar junger, aber kluger Mann zum Oberhaupt gemacht wurde. Ein Dorf, wo jeder arbeitet, so wie er soll. Ich werde dem König von den Ereignissen hier aus Soldheim berichten. Außerdem werde ich ihm raten, eurem Dorf finanzielle Unterstützung zukommen zu lassen, damit ihr euch weiter entwickeln könnt und auch in Zukunft eine gute Bewirtung für königliche Truppen und Delegationen gewährleisten werdet. Nur Bürger denen es gut geht, können auch gute Gastfreundschaft gewähren. Wie ich sehe, habt ihr euch sehr zurückgenommen, damit ihr uns habt bewirten können. Derartige Königstreue habe ich noch nicht oft erlebt. Als Dank werden wir euch etwas Gold und eine unserer Kutschen mitsamt der Bisons übrig lassen. Ihr solltet sie nutzen, um in der Stadt Lenestet neues Werkzeug zu kaufen.«

Harald, erstaunt über die Großzügigkeit des Königs beziehungsweise dessen Leutnants, war für einen Moment sprachlos. Dann antwortete er: »Als Oberhaupt kann ich im Namen der ganzen Dorfgemeinschaft danken für eure Großzügigkeit uns gegenüber. Gerne werden wir auch in Zukunft dem König unsere Treue und Dankbarkeit für die Steuerfreiheit erweisen.«

Kone Turson reichte Harald die Hand und übergab ihm einen ledernen Beutel mit edler grauer Schlaufe. Danach lies er seine Männer eine Kutsche entladen, die er dann feierlich, vor der ganzen Dorfgemeinschaft stehend, an Harald übergab. Etwas später brach die königliche Delegation unter Jubelgeschrei der Bewohner Soldheims auf. Harald beschloss, eine Sitzung des Dorfrates abhalten zu lassen, um über die neue Situation zu beraten.

»Mit dieser Kutsche und den Bisons haben wir die Möglichkeit, zahlreiche Waren in zwei Tagesritten mit Lenestet zu handeln. Außerdem haben wir dreizehn heldanische Gold-Dukaten erhalten. Davon können wir neue Werkzeuge kaufen. Womöglich bekommen wir vom König sogar mehr, aber das wird wohl noch dauern...« begann Harald die Sitzung. Die Bewohner Soldheims hatten in der Mitte des Marktplatzes ein großes Feuer errichtet. Um dieser verteilt standen Bänke und Stühle aus den Häusern. Es war früher Nachmittag und die ganze Bevölkerung Soldheims wollte die Sitzung des Dorfrats mitverfolgen. »Wir sollten Bögen kaufen« schlug Feraldor vor. «Die Jagd ist lukrativ und sichert uns ein gutes Einkommen!«

»Nein! Das halte ich nicht für richtig« warf Halmaer ein.

«Brugaische Armbrüste sind sinnvoller. Das Bogenschießen ist schwer zu erlernen. Armbrustschießen dagegen nicht!«

»Ach! Du hast ja keine Ahnung« konterte Feraldor direkt.

»Ruhe!« Alle Blicke waren nun auf Harald gerichtet. »Ich finde Halmaers Vorschlag gut. Wir werden morgen fünf brugaische Armbrüste erwerben. Und drei Bögen. Die Lichtung, auf der ich den Elch geschossen habe, eignet sich für die Jagd hervorragend. Ich schlage vor, einen Hochsitz zu errichten. Daneben werden wir im Wald eine Jagdhütte erbauen. Des weiteren halte ich es für sinnvoll, eine Gerberei zu errichten. Halmaer: Du wirst am kleinen Weiher eine Gerberei errichten! Leder ist ein sehr wertvolles Gut. Wir sollten außerdem neue Angelruten anschaffen.

Feraldor, Du hilfst bei der Ausbildung der Bogenschützen.« Nach dieser Ansprache klatschen mehrere Dorfbewohner Beifall. »Die Herberge sollte auch ausgebessert werde« schlug Hrorbir Hangbrison vor.

»In der Tat« pflichtete ihm seine Frau Rega bei. »Ja, das ist richtig.« ergriff nun wieder Harald das Wort. »Wer wird mich morgen begleiten, wenn wir morgen nach Lenestet fahren?« Mehrere Personen meldeten sich. «Der Rest, der hierbleibt wird den Hangbrisons bei der Ausbesserung der Herberge helfen. Königliche Delegationen sollen auch in Zukunft gut bewirtet werden können.« er machte eine Pause und wies diejenigen an, die mit ihm nach Lenestet gehen wollten: »Wir sollten in der Frühe aufbrechen. Jeder, der Waren zu verkaufen hat, bringe diese bitte auf den Marktplatz!«

Am darauffolgenden Tag, noch vor Sonnenaufgang machten sich Harald und zwölf weitere Bewohner Soldheims zusammen mit ihrer neuen Kutsche und einem Pferd, das dem Bauer Lyndolf gehörte, auf den Weg Richtung Lenestet. Die Truppe begegnete auf dem Weg zahlreichen Händlern, mit denen bereits kleinere Geschäfte abgewickelt wurden. Dabei stellte sich das Verhandlungsgeschick von Feraldor als sehr nützlich heraus. Der kleine, aber muskulöse Jäger mit dem schelmischen Grinsen feilschte wo es nur ging. Einen Händler aus Drestak, der auf dem Weg nach Djorikstet war, trieb er damit fast zur Weißglut. Dennoch verkaufte dieser mehrere Armbrustbolzen für einen kleinen Obolus.

Harald und die anderen erreichten Lenestet nach etwa zweieinhalb Tagen. Lenestet war nicht besonders groß, besaß dafür aber zahlreiche Handelsmöglichkeiten, lag es doch auf dem Weg zwischen Drestak und Bruga. Die Häuser in Lenestet waren aus stabilem und robustem Holz und es gab einen großen Marktplatz, auf dem sich Händler aus ganz Katamtka tummelten. Wieder profitierten die Bewohner Soldheims vom Handelsgeschick Feraldors. Nach und nach wurde die Kutsche mit zahlreichen Werkzeugen, Waffen und Gütern beladen. Nach und nach wurden auch die Gold-Dukaten in Haralds Geldbeutel weniger.

Den Abend verbrachte die Truppe aus Soldheim in einer Herberge, die den eher abschreckenden Namen «Der betrunkene General« trug. Die Herberge war ein einstöckiges Bauwerk aus solidem Stein, gedeckt mit Heidekraut. Im Innern war es eher dunkel und düster. Mehrere betrunkene Minenarbeiter kamen aus der Bleibe, als Harald und seine Dorfbewohner sie betraten. Anscheinend machte gerade ein Kaufmann aus dem Sultanat Al’Hrasalam hier Rast, denn Harald erkannte mehrere, Krummsäbel tragende, schwarze Leibwächter mit finsterer Mine. Er lies fünf Männer die Kutsche mitsamt der Güter abwechselnd bewachen, während die anderen acht in der Herberge ein nicht besonders köstliches Abendbrot zu sich nahmen. Obgleich es in Lenestet eine Stadtwache gab und auch die Herberge selbst von zwei Wachen kontrolliert wurde, ging Harald auf Nummer sicher. Denn die Stadtwache war unvorsichtig und die beiden Wächter der Herberge saßen betrunken draußen und unterhielten sich über Freudenmädchen aus dem hiesigen Bordell.

Es war eine dunkle Nacht und die wenigen Laternen der Stadt beleuchteten den Marktplatz nur schlecht. Ratten kamen aus den Kanälen und ernährten sich von den Abfällen. Harald warnte die Wächter der Kutsche und auch er selbst war in höchster Alarmbereitschaft.

Allerdings gab es keine Vorkommnisse und so machte sich der Trupp aus Soldheim zusammen mit den ersten Sonnenstrahlen wieder auf den Weg zurück ins Dorf.

Der Rückweg dauerte erwartungsgemäß deutlich länger, war man doch mit zahlreichen Waren und Gütern beladen. Von den 13 Gold-Dukaten war nur noch eine übrig. Allerdings konnte Harald sein Elchgeweih an einen sehr freundlichen Händler namens Ahmed Chaltour aus Chairo, der Hauptstadt Al’Hrasalams, verkaufen. In Soldheim wurde die Truppe mit Freude begrüßt. Sofort machte man sich an die Arbeit und benutze die Werkzeuge zur Ausbesserung des Dorfes.

Eine Hochsitz und eine Jagdhütte wurden errichtet, die Gerberei war nach drei Monaten fertiggestellt. Mehrmals in der Woche unternahmen Feraldor und Harald Jagdausflüge. Haralds Bogenfertigkeiten wurden von Tag zu Tag besser. Neue Einwohner erreichten das Dorf. Der Wohlstand stieg von Tag zu Tag. Bald schon konnte man sich eine weitere Kutsche kaufen. Neue Pferde wurden erworben. Die Felder vergrößert. Eine neue Schmiede gebaut. Die Herberge ausgebaut. Der Marktplatz mit Kopfsteinpflaster geebnet. Eine weiterer Hochsitz gebaut. Es kamen jetzt auch Händler nach Soldheim. Soldheim stellte nun eigene Lederkleidung und Rüstung her, die aus Elchleder gefertigt wurden. Eine Palisade wurde um das Dorf errichtet, das nunmehr die Ausmaße einer kleinen Stadt erreicht hatte.

Ein Wachturm aus feuerfestem Stein kam dazu. Eine Bäckerei konnte nun aus dem dorfeigenen Weizen Brote produzieren. Kühe sorgten für Milch und Käse. Hunde und andere Haustiere erhielten Einzug in die nun zweistöckigen Wohnhäuser. Haralds Familie, die nun zu den angesehensten Soldheims zählte, zog nach Djorikstet, wo sein kleiner Bruder ein Studium mit Hilfe der Familienersparnisse beginnen wollte. Allerdings ohne Harald, der lieber weiter in Soldheim blieb.

Er war nun 27 Jahre alt und immer noch Dorfoberhaupt. Sein Ruf als gerechter Führer und erfolgreicher Elchjäger eilte ihm voraus und drang auch an den Königshof in Djorikstet, der, wie Kone damals angekündigt hatte, immer wieder finanzielle Unterstützung lieferte. Ahmed Chaltour, der Händler der damals in Lenestet Harald das Geweih abgekauft hatte, zog auch nach Soldheim. So kamen die Bewohner der Kleinstadt auch in den Genuss südlicher Speisen und Gewürze. Schnell wurde der kleine dicke Mann mit Knollennase und dem Turban zu einem guten Freund Haralds.


Eines Tages, die letzten Sonnenstrahlen blitzen hinter den Tannen hervor, kam ein alleine reisender Bote nach Soldheim. Er nächtigte in der Herberge «Zum kleinen Tische» in der an diesem Abend auch Harald aß und sich mit anderen Mitgliedern des Dorfrates beriet.

»Habt ihr von dem riesigen Elch gehört, der aus dem zoologischen Garten Heldans ausgebrochen ist?« fragte der Bote in die Runde. Die anwesenden Dorfratsmitglieder blickten alle in Richtung ihres Oberhaupts, das gerade ein saftiges Stück Fleisch verzehrte.

»Erzähl mehr davon!« forderte er nun an den Boten gerichtet. Man merkte förmlich, wie es in der Herberge still wurde und die Aufmerksamkeit aller anwesenden Personen auf Harald und dem Boten lagen.

»Der heldanische Herzog schickt mich.« antwortete der Bote, sich auf einen Stuhl setzend und ein Essen bestellend, »Der entflohene Elchbulle war das Prachtexemplar, der größte je in Djorikstet gesehene Elch überhaupt. Er wurde in der Menagerie von Hamstein gepflegt und sollte dem König zu dessen Geburtstag geschenkt werden. Ihr wisst doch, Heldan und Bruga stehen immer noch in Konflikt. Auch der vor Jahren geschlossene Vertrag half und hilft da nicht viel. Wir Heldaner sind nun daran interessiert, unsere Stellung beim König zu verbessern, müssen wir doch gar fast um einen Angriff aus Bruga fürchten.« Er machte eine kurze Redepause um die Worte wirken zu lassen. Harald nickte zustimmend, aber auch ein bisschen nachdenklich.

»Der Elch als Geschenk soll unsere Königstreue bezeugen. Das ist nun nicht mehr möglich. Wir vermuten, dass brugaische Spione den Ausbruch organisiert haben, wissen sie doch, dass wir den Elch schenken wollten. Euer Ruf«, dabei zeigte er auf Harald »als Elchjäger eilt euch voraus.« Wieder machte er eine Pause. »Ich nehme doch an, dass ihr Harald Goldbart, der Elchjäger seid?!« fügte er dann fragend hinzu.

»Nun. Ja. Der bin ich.« antwortete Harald knapp, wohlwissend, dass alle Blicke auf ihn gerichtet waren und jeder seine Antwort und Reaktion abwartete.

»Also, nehmt ihr den Auftrag an? Fangt ihr den Elch für uns? Wir werden beim König auch ein gutes Wort für euch einlegen!« entgegnete der Bote freudestrahlend.

»Fangen und Schießen sind zwei verschiedenen Dinge...« sagte Harald, woraufhin sich dem Boten die Mundwinkel nach unten neigten, »...aber ich wäre nicht Harald Goldbart wenn ich es nicht wenigstens versuchen würde! Ja! Ich nehme den Auftrag an. Noch heute Nacht werde ich aufbrechen. Wenn ihr mir sagt, wo man den Elchen vermutet und wie er aussieht!«

Die Freude kehrte zurück ins Gesicht des Boten, war es doch lediglich seine Aufgabe gewesen, Harald zum Annehmen des Auftrags zu bewegen.

»Ich nehme an, ihr wisst wo Hamstein liegt. Bauern aus dem Süden unseres schönen Herzogtums berichten, dass er etwa vier bis fünf Tagesritte nord-östlich von hier, zwischen der Prärie und dem Nosiris-Wald gesichtet wurde.«

»Das ist ein großes Gebiet, was ihr da nennt. Und trotzdem werde ich es versuchen!« antwortete das bärtige Dorfoberhaupt und schlug dabei mit der Faust auf den Tisch.

»Feraldor! Solange ich auf der Suche bin führst Du in meinem Namen die Tätigkeit als Dorfoberhaupt fort! Ich denke, dass ist im Einvernehmen aller schnell beschlossen« sagte Harald, der aufgestanden war und nun fragend in die Runde blickte. Die Mitglieder des Dorfrates nickten.


Noch in der selben Nacht brach Harald auf. Neben seinem Pferd, einem großen Rappen aus den Silte-Ställen nahm er als Packpferd einen robusten Kaltblutfuchs mit Proviant mit. Auf seinem Rücken trug Harald eine große brugaische Armbrust. Ein kleines Damast-Messer steckte in einer ledernen Scheide an seinem Gürtel. Auf seinem Zugpferd transportierte er außerdem einen Bogen. Bevor er Soldheim verlies, suchte er noch seinen guten Freund Ahmed Chaltour auf. Der kleine Händler aus Chairo hatte Harald das Damast-Messer geschenkt. Harald klopfte an die geschlossene Tür des Hauses des Südländers. Dessen Geschäft war bereits geschlossen, doch Harald wusste, dass er jederzeit willkommen war.

»Wer da?» hörte er Ahmed in dessen hohen, leicht penetranten Stimme rufen.

»Harald hier.«

»Komme sofort. Einen Moment noch!«

Kurze Zeit später öffnete Ahmed die Tür. Er trug nur ein dünnes, seidenes Nachthemd mit Goldbestickungen und hatte eine Zigarre im Mund. Der Geruch war, so empfand es zumindest Harald, grässlich. Extrem süßer Rauch, eine Mischung aus Tabak und Süßholz kam ihm entgegen.

»Was gibt’s?« fragte der Chairoaner mit starkem, aber durchaus liebenswertem Akzent.

»Ich werde verreisen...« begann Harald.

»Soso...« unterbrach ihn der Händler mit einem Grinsen, welches aufgrund des fahlen Fackellichts in dessen Wohnung einer Grimasse ähnelte, «...wohin denn?«

»Ich werde für den heldanischen Herzog einen Elch fangen. Allerdings weiß ich nicht, wie es genau anstellen soll. Ein Lasso habe ich, doch ich denke nicht, dass sich ein Elch mit einem Lasso fangen lässt. Erschießen darf ich ihn nicht...« Schmunzelnd hörte Ahmed seinem Freund zu.

»Gut, dass Du mich fragst! Wir im Süden fangen des öfteren große Tiere. Der Sultan besitzt einen großen zoologischen Garten mit Entelodonten, Wüstenlöwen, Nashörnern und dergleichen mehr. Mit einem Lasso aber fängt man solche Bestien bestimmt nicht, aber...«, dabei machte er eine ausschweifende Geste und einen ziemlich geheimnisvollen Blick, »wir, das heißt, die Tierfänger des Südens, benutzten Churra.«

Schon bei den Wörtern Nashorn und Entelodont machte Harald einen fragenden Blick, doch als er das Wort »Churra» hörte, unterbrach er Ahmed. »Churra?« »Seht, ihr müsst euch etwas gedulden. Es ist zutiefst unhöflich, ja gar ungehobelt jemanden zu unterbrechen. Als Dorfoberhaupt ist derartiges Verhalten nicht angebracht!« sagte der dicke Chairoaner in ernstem vorwurfsvollen Ton.

Harald, der den leichten Sarkasmus seines Freundes kannte, reagierte auf dessen nicht ernstgemeinte Anschuldigung mit einem Grinsen. Der Südländer fuhr fort.

»Gut. Churra ist eine seltene Pflanze, die in den Canyons des Emirats Kabral wächst. Es ist ein grünlich-gelbes Kraut mit harten Stängeln und Blättern. Man trocknet es und dann verbrennt man es. Der Dampf von Churra wirkt einschläfernd. In kleinen Mengen benutzt man es, um Kinder besser einschlafen zu lassen. In großen Mengen kann man ganze Viertel damit in einen Schlaf legen. Piraten aus Zurga schießen Churra auf andere Boote, damit deren Besatzung einschläft. Dann werden die Schiffe des Gegners gekapert und die schlafenden Matrosen abgestochen. Auch im Krieg wird es mit Katapulten auf die Gegner geschossen. Sehr effektiv, wie man sich vorstellen kann. Nun...wie Du dir sicher denken kannst, eignet sich Churra auch hervorragend zur Jagd, nein, das heißt, zum Fangen großer Tiere. Man entzündet ein paar getrocknete Blätter, wenn der Wind richtig steht...dann weht der Churra-Dampf in Richtung des Tieres, welches daraufhin müde und träge wird, ja oftmals sogar auf der Stelle entschlummert. Nun… es dann zu fangen ist keine große Herausforderung mehr. Nur sollte man aufpassen...denn atmet man den Churra-Dampf selbst ein...na, das kannst Du dir denken.« Erstaunt von dieser Ausführung fragte Harald: »Gibt es ein Gegenmittel?»

»Natürlich gibt es das. Entweder man benutzt eine Maske, doch das ist nicht sehr effektiv, denn auch auf die Schleimhäute der Augen wirkt Churra. Daher sollte man Nursem-Blätter kauen. Frag mich nicht wieso. Aber Nursem neutralisiert die Wirkung von Churra … und schmeckt gar nicht so schlecht. Wie es dein unverschämtes Glück so will, habe ich natürlich beides da… Aber es kostet dich etwas.«

»Natürlich. Damit habe ich gerechnet.«

Harald kaufte ein großes Büschel getrocknetes Churra und ein paar Nursem-Blätter, die er in seiner Brusttasche verstaute. Er umarmte seinen Freund und verabschiedete sich dann. Wie damals, als er seinen ersten Elch schoss, war es Vollmond. Harald gab seinem Pferd die Sporen und ritt los.


Nachdem er drei Tage geritten war, erreichte er nun die Prärie, ein großes, kaum besiedeltes Gebiet südlich der Heldenischen Hauptstadt Hamstein. Der Schrei eines großen Königsadlers hallte über die schier endlosen Graslande. Harald befand sich auf einer Anhöhe und konnte in der Ferne den aufgewirbelten Staub einer Mustangherde erkennen. Wo sollte er in dieser riesigen Landschaft einen einzelnen Elchbullen finden? Es schien eine nicht zu bewältigende Aufgabe zu sein.

Am Vortag hatte Harald einen Hasen geschossen und bei einem einsamen Jäger in dessen Hütte genächtigt.

Die Sonne stand hoch und obwohl die Prärie nördlich gelegen war, brannten ihre Strahlen erbarmungslos auf die Haut des Reiters. Haralds Pferde waren ausgesprochen zuverlässig und furchtlos. Selbst als gestern das Wolfsgeheul durch die Nach hindurch ertönte, fürchteten sie sich nicht, blieben ruhig und gelassen.

Wo genau er war, das wusste er nicht. Also ritt er weiter und weiter. Es wurde Abend. Die Sonne stand nun schon sehr tief und tauchte die abergroße Prärie in ein orange-goldenes Licht. Ein kühle Brise zog auf. Die Nacht würde sehr kalt werden. Am Himmel war keine Wolke zu sehen. Das Bild, das die Sterne am Himmel boten, war atemberaubend. Abertausende kleine, golden leuchtende Punkte füllten den nun mehr dunkelblauen Himmel.Heute konnte man sogar ferne Galaxien beobachten. Harald suchte sich einen großen, freistehenden Baum. Er entfachte aus ein paar Büschen ein Lagerfeuer und band seine Pferde an eine Wurzel an. Dann bestieg er den Baum, befestigte seine Beine mit einem Lasso, so dass er nicht herunterfalle und schlief dann ein. Es war bereits früher Mittag, als Harald endlich erwachte. Schnell sprang er zu Boden und nahm ein wenig Proviant zu sich. Er musste feststellen, dass er nur noch wenig Wasservorräte hatte. Auch die Pferde schienen hungrig zu sein.

Am Ende des Tages nahm die Dichte von Bäumen zu. Tannen, Douglasien, aber auch Eichen und Buchen waren in der Ferne zu erkennen. Das musste der Nosiris-Wald sein, mutmaßte Harald. Händler erzählten von zahlreichen Gefahren die dort herrschen sollen. Immer wieder gäbe es Waldtrolle, die den Wald verließen und Rinder oder gar deren Besitzer abschlachten. Harald fürchtete sich nicht. Seine Armbrust hatte eine sehr hohe Zugkraft und die Bolzen waren aus schwerem Holz und dicken Stahlspitzen. Aus 250 Fuß Entfernung zertrümmerten sie immer noch den Kopf eines Menschen oder durchbohrten mit brutaler Gewalt das Fell eines Elches. Letzteres war allerdings nicht Haralds Intention.

Er vermutete den Elch in der Nähe eines Flusslaufes. Einen solchen zu finden war auch für die Pferde wichtig, die seit längerem kein Wasser mehr zu sich genommen hatten.

Noch während der Abenddämmerung erreichte Harald den Nosiris-Wald. Dicht und hoch, dunkel und gefährlich ragten die Bäume in die kalte Abendluft hinein. Still, aber doch verdächtig leise und sanft im lauen Wind sich bewegend. Ein paar Rehe grasten einen eine Achtel Meile von ihm entfernt. Der Wind war günstig. Harald Goldbart band seine beiden Pferde an, so dass sie aus einer kleinen Wasserlache, in der sich die letzten Sonnenstrahlen spiegelten, trinken konnten. Dann nahm er die Armbrust hervor, spannte mit der Rolle die Sehne und platzierte einen Bolzen auf der tödlichen Schussrinne. Langsam bewegte er sich auf die Gruppe der Rehe zu. Als er nur noch hundert Fuß entfernt war, visierte er ein mittelgroßes Tier an. Schnell betätigte er den Abzug und der Bolzen wurde mit brutaler Geschwindigkeit auf der Schussrinne nach vorne geschleudert, nahm rapide an Geschwindigkeit zu und durchdrang mit einem schmatzenden Geräusch die dünne Haut des Rehs, bahnte sich seinen Weg durch mehrere Organe und trat dann auf der anderen Seite wieder aus. Blut umströmte die Wunde und das getroffene Tier sank aufgrund des starken Stoßes seitlich zu Boden, zuckte kurz mit den Beinen und war dann tot. Die anderen Tiere sprangen mit filigranen, von Angst getriebenen Bewegungen in alle Richtungen zur Seite und suchten sich den Weg in den rettenden, aber von anderen Gefahren heimgesuchten, dunkeln Wald.

Harald wusste nicht wieso, aber er hatte das Gefühl, sich in der Nähe des Elches zu befinden. Im Wald gab es eine Anhöhe, die einen sehr guten Überblick über weite Teile der Prärie und auch des Waldes lieferte. Morgen würde er dort nach dem Elch Ausschau halten.


Harald erreichte die Anhöhe gegen Mittag. Die Luft war warm und feucht, es hatte seit mehreren Tagen nicht geregnet. Auf der Anhöhe selbst befand sich nochmals ein Felsen, der ohne große Schwierigkeit bestiegen werden konnte.

Der Felsen bot einen grandiosen Überblick. Im Norden sahn man kleinere Dörfer um die Hauptstadt des Herzogtums Heldan. Im Osten konnte man die großen Bergketten erspähen. Im Süden erkannte man große Gebirge, hinter denen sich Djalme und der große Fluss, die Djaster befanden.

Und plötzlich sah er ihn! Gar nicht weit entfernt. Auf einer anderen Anhöhe thronend, majestätisch wie es sich jeder König nur wünschen würde. Ein gigantischer Elch mit riesigem Geweih, weißem Bauch und ebenso weißem Kinnbart. Er war sicher noch ein gutes Stück größer als der Elch, den Harald vor mehreren Jahren geschossen hatte. Ein Röhren entfuhr dem Elchbullen und mehrere Vögel flogen aus ihren Baumwipfeln.

Welch ein Glück Harald doch hatte! Langsam kletterte er von dem Felsen hinab und bestieg sein Pferd und ritt langsam in Richtung des großen Tiers. Nun brauchte er eine Taktik und natürlich auch Glück. Etwa fünfhundert Fuß von dem imposanten Tier entfernt, band Harald Goldbart sein Tier an. Dann nahm er Churra und begann die Nursem-Blätter zu kauen. Der Wind ging in seine Richtung. Das hatte zwar zum Vorteil, dass der Elch ihn nicht riechen konnte. Doch Churra konnte er so nicht einsetzten. Der Elchbulle bewegte sich mit großen, aber langsamen majestätischen Schritten durch die Waldlandschaft. Hier war der Nosiris-Wald nicht ganz so dicht und wurde von Birken mit orangefarbenen Blättern dominiert. Langsam folgte Harald dem Elch. Wie würde er das Churra entzünden? Wirkte es überhaupt? Sein Kopf war voller Fragen, aber auch voller Motivation und überragendem Ehrgeiz. Er Harald Goldbart, Sohn eines einfachen Waldarbeiters in einem unbedeutenden Dorf, hatte mehr Glück in seinem Leben gehabt als man gemeinhin für möglich hielt.

Erst trifft er einen halb-toten Elchbullen, den zu Erlegen es keiner großen Herausforderung bedurfte. Dann wird sein Dorf von den Steuern befreit und autonom. Dann wird er Dorfoberhaupt, erhält vom König gar finanzielle Hilfe. Seine Kleinstadt wächst und gedeiht, sein Jagdruhm macht ihn berühmt und nun, hat er die letzte große Aufgabe vor sich. Die Meisterprüfung, deren Bewältigung ihn, den Goldbart tragenden Jäger, endgültig zu dem machen wird, aus dem Stoff für Legenden sind. Ja! Eine Legende. Das wäre Harald gerne. Doch dazu musste er erst diesen gewaltigen Elchbullen fangen. Langsam und mit viel Bedacht näherte er sich seinem Ziel. Schritt für Schritt. Dann lies er den Bullen wieder ein Stück ziehen.

Da! Ein großer Braunbär brach aus einem Felsvorsprung hervor und bewegte sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit auf den Elch zu. Der Elchbulle reagierte. Den Kopf senkend, richtete er sein Geweih in Richtung des angreifenden Raubtiers. Harald versuchte ein Feuer zu entfachen. Mit großer Geschwindigkeit rieb er zwei Feuersteine aneinander, seinen Blick immer wieder auf die beiden Tiere richtend, deren Kampf unmittelbar bevorstand. Mit krachenden Schritten kam der Bär immer näher. Ein erster Funke fraß sich in das trockene Stroh, das sofort zu glimmen, dann zu brennen begann. Schnell zog Harald mehrere Büschel Churra hervor umwickelte damit einen Pfeil seines Bogens und zündete das getrocknete Kraut dann an. Dessen leicht bitter-modernd riechender Geruch drang Harald sofort in die Nase. Er fühlte den Anflug leichter Müdigkeit. Schnell kaute er erneut auf den Nursem-Blättern, die sich zwischen seinen Backenzähnen befanden. Aus den brennenden Churra-Blättern drang dichter, dunkelgrün-grauer Rauch. Schnell schoss er den Pfeil, der einen dampfenden Schweif hinter sich lies in Richtung des Bären. Er verfehlte das jagende Raubtier traf aber eine Stelle mit hoch gewachsenem Gras, welches sofort in Flammen aufging, da es enorm trocken war. Schnell breitete es sich aus. Viel zu schnell. Mit erschrecken stellte Harald fest, dass auch das Feuer was er zum Entzünden der Churra-Blätter angefeuert hatte, sich ausbreitete.

Krachend sprang der Bär den Elchbullen an. Ebenso krachend durchdrang das Geweih des angegriffenen Pflanzenfressers zahlreiche Knochen des Bären. Beide, Angreifer und Verteidiger wurden durch den Aufprall nach hinten geschleudert. Der Bär richtete sich als erster wieder auf. Sein gold-braunes Fell schimmerte, ja glitzerte fast im Schein der prallen Sonne. Mit unmenschlicher Gewalt holte er mit seiner rechten Tatze zum Schlag gegen den Elch aus und traf diesen auf der linken Flanke. Die dicken Krallen wuchteten sich durch das nussbraune Fell des Elchbullen. Der Bär richtete sich auf und erreicht damit eine Höhe von fast zehn Fuß. Aus der Wunde des Elchbullen spritzte dunkelrotes Blut, dass das hellgelbe Gras bedeckte. Das Feuer, das Harald versehentlich geschaffen hatte, weitete sich immer mehr aus. Dichter Rauch stieg auf und man konnte zahlreiche Vögel aus den nahe gelegenen Bäumen mit einem erschreckten Schrei auffliegen sehen. Der Elchbulle nahm mit gesenkten Kopf Anlauf und trabte, rannte in Richtung des Braunbären, der nun auch das Feuer wahrgenommen hatte. Eine große Wunde machte dem Bär zu schaffen. Mit großer Wucht rammte der Elch dem Bär das Geweih entgegen. Wieder hörte man das Knacken von Knochen, auch das Schaufelgeweih litt unter dem Zusammenprall. Der Bär, der nun unter dem Elch lag, nutzte diesen Vorteil und verbiss sich mit seinen Fangzähnen an der Kehle des Pflanzenfressers, um diesen die Luft abzuwürgen. Harald, völlig überfordert von der Situation, umwickelte einen zweiten Pfeil mit Churra und feuerte ihn ab. Er traf den Bär in den Nacken. Doch der Angriff hatte nicht den von Harald erhofften Effekt. Während der Churra-Rauch den Elch müde und träge werden lies, atmete der Bär, noch immer verbissen in der Kehle des Elchs, den Rauch nicht ein. Der Elch durfte nicht sterben. Geistesgegenwärtig nutzte Harald seinen letzten, seinen allerletzten Trumpf. Die Armbrust hatte er bei seinem Pferd zurückgelassen und mit Pfeil und Bogen war dem Bär nicht beizukommen. Bevor er diesen damit töten konnte, war der Elch tot. Und Zeit hatte Harald nun wirklich nicht. Er zog sein Damast-Messer aus der kleinen Scheide und sprintete so schnell er nur konnte, durch den Rauch, durch das Feuer.

Mit einem wuchtigen Sprung, das Messer in der rechten Hand fest umklammert, sprang er den Bären an. Die kühle Stahlklinge aus mehreren Eisenschichten bohrte sich durch die Haut des Bären. Ein Brüllen, das durch Mark und Bein ging entfuhr dem Bären. Blut spritzte in Haralds Gesicht. Er versuchte sich am Fell des Bären festzuhalten. Erneut stach er zu, immer wieder. Der Bär von den Wunden stark getroffen, löste seinen Biss. Harald sprang von dem Raubtier herab und rollte sich auf dem Boden ab. Um ein Haar hätte ihn ein tödlicher Prankenstoß des Bären erwischt, der nun in Rage noch gefährlicher war als sonst. Der Elch, aus dessen Hals dickflüssiges Blut quoll, wankte, dann fiel er, zu Boden. Ob tot oder nur müde vom Churra – das wusste Harald nicht, war ihm in diesem Moment auch egal, denn der Bär, dem Anschein nach noch sehr lebendig und vor allem gefährlich richtete sich vor ihm auf. Hinter den beiden drang dichter Rauch in die Luft. Das Feuer hatte sich mittlerweile sehr weit verbreitet. Es gab keinen Ausweg! In der rechten Hand noch immer das blutige Messer umklammert, stand Harald vor dem Braunbären. Dessen kleine Augen blickten dem Menschen entgegen. Lange überlegen konnte Harald nicht. Der Bär bewegte sich, offensichtlich allerdings unter großen Schmerzen auf ihn zu. Langsame Schritte, gefährliche Schritte. Dang! So schnell hatte Harald noch nie in seinem Leben reagiert. Er nahm Schwung und schleuderte das Messer in Richtung des Bären. Zwischen den Augen des Raubtiers steckte die stählerne Klinge. Tief, bis zum Schacht. Taumelnd fiel Harald zur Seite, den Blick auf den getroffenen Bären gerichtet. Noch strauchelte das große Raubtier, dann fiel es regungslos zu Boden, den Blick verzerrt, die Knochen gebrochen. Gegen das Feuer konnte Harald nichts unternehmen. War er verletzt? Er wusste es nicht. Adrenalin hatte jede Pore seines Körpers erfasst. Aber er fühlte sich gut. Langsamen Schrittes lief er in Richtung des Elchs. Seine Augen tränten wegen des beißenden Rauchs.

Abgesehen von dessen Verletzung an der linken Flanke durch den Hieb des Bären und der Verletzung am Hals schien das Tier unverletzt. Schlafend, aber nicht tot. Das hoffte Harald zumindest. Wie lange würde das Churra wirken? Er rannte durch den Rauch zurück zu seinem Pferden, wo er sein Lasso nahm und es am Sattel seines Silte-Rappens befestigte, dann ritt er im Galopp zum Elch. Um dessen Geweih wickelte er die Schnur des Lassos, dann wartete er. Wartete, in der Hoffnung, dass er Elch nicht tot sei.

Es war nun später Nachmittag. Das Feuer hatte aufgehört, aber einen gehörigen Teil der vormals weißen Birkenstämme in schwarze verwandelt. Der Elch begann zu Zucken. Dann richtete er sich auf. Majestätisch, aber geschwächt. Das Blut an den Wunden war getrocknet und schloss diese. Es waren große Wunden, aber keine tödlichen. Wieder auf den Beinen stehend, schien der Elch über das Geschehene nachzudenken. Harald war sich sicher, dass er überleben würde. Der Elch war zahmer als vermutet, ja weigerte sich nicht und folgte den Pferden.

Den Nosiris-Wald verlassend, ritt Harald, von unglaublichen Stolz ergriffen, in Richtung Hamstein, der Hauptstadt Heldans. Nach zwei Tagesritten konnte er in der Ferne die zahlreichen Türme und Bauwerke Hausteins erknennen. Er hatte in mehreren Dörfern Rast gemacht und schnell verbreitete sich die Kunde, des blond-bärtigen Elchjägers Harald Goldbart. Noch bevor er Hamstgein erreichte kamen ihm Boten entgegen, die ihn freundlich in die Stadt führten. Dort wurde der Elch Ärzten übergeben. Stire Vardison, der Herzog Heldans begrüßte ihn höchst erfreut.

»Ich werde sofort einen Falken nach Djorikstet und nach Soldheim entsenden, um von eurer glorreichen Tat zu berichten. Die Barden werden euch in ihren Liedern besingen.« lobte der Herzog den Erfolgreichen. Er fuhr fort: »Ich werde euch einen Geleitzug zurück nach Soldheim organisieren. Außerdem erhaltet ihr 50 heldanische Gold-Dukaten.« Harald bedankte sich höflich und ritt dann gen Soldheim. Zuvor hatte er mit dem Herzog bei einem Festmahl eine kurze Unterredung, deren Inhalt allerdings unbekannt blieb.

Zu Ehren Haralds wurde in Soldheim ein großes Fest organisiert. Der Marktplatz wurde mit Laternen geschmückt und bekannte Barden trugen der im Alkohol badenden Menge Lieder und Heldensagen vor.

Eine Woche später erreichte eine königliche Delegation das kleine Dorf. Kone Turson, mittlerweile Oberst der djorikstetischen Armee, leitete sie wieder. Freudestrahlend begrüßte er Harald.

»Ich, Kone Turson, Oberst der djorikstetischen Armee, habe euch, Dorfoberhaupt und Elchjäger Harald Goldbart, eine frohe, ja eine berauschende Nachricht zu überbringen. Im Namen des Königs ernenne ich euch zum Adel, da ihr heldenhafte Taten vollbracht und ein Dorf zu einem prosperierenden Ort gemacht habt. Ihr seid nun offiziell Adelsträger des djorikstetischen Ordens. Das Anwesen des ehemaligen Beamten gehört ab sofort euch. Der König lässt weiterhin schöne Grüße ausrichten und meint, er würde diesem Dorf, von dem man so viel, so viel gutes hört, bald einen Besuch abstatten.«

Dankend schüttelte Harald Goldbart, von Stolz erfüllt, die Hand des Obersts und lud diesen zu einem Abendessen ein.

»Seht, ich bin Oberhaupt dieses kleinen Dorfes. Ich habe Abenteuer erlebt, von denen andere nur träumen.«, begann Harald eine Rede, an die königliche Delegation und die Bewohner Soldheims gerichtet, »Ich hatte mehr Glück, als ich verdient habe. Ich möchte das, was ich erhalten habe zurückgeben. Ich werde 25 Golddukaten nutzen um in Djorikstet das Waisenhaus ausbessern zu lassen. Außerdem werde ich meinen Posten als Oberhaupt dieses schönen, dieses wunderbaren Dorfes aufgeben. Ich denke, dass ein würdiger Nachfolger Feraldor sein wird, der die Geschicke dieser Gemeinschaft geleitet hat, solange ich nicht da war. Ich möchte nun ein ruhiges Leben führen. Ein Leben ohne Angst und Gefahr, ein Leben, aber, dass ich dennoch genießen kann. Ein Leben auch, auf das ich stolz sein kann.

Ich werde, hoffentlich zusammen mit eurer Hilfe, Soldheim zu einer großen, zur besten Herberge ganz Djorikstets ausbauen. Zu einer Herberge, für jede und jedermann, für Händler aus dem Süden, Heldaner und Bruganer, Menschen aus Kalmandor. Die Herberge wird den Namen „Zum ehrfürchtigen Elch« tragen. Ich möchte, dass hier, in Soldheim, Menschen gerne Rast machen. Menschen nach anstrengender Reise Ruhe finden. Delegationen Platz finden. Diplomaten. Kühne Waldläufer, aber auch von Not geplagte Wanderer. Soldheim soll eine Stätte des Friedens und des Zusammenkommens werden. Ich selbst werde in der Herberge arbeiten. Sie soll viele Zimmer und Ställe bieten, kulinarische Genüsse, Entspannung und Spaß. Es wird ein Badhaus geben. Eine Schießanlage, einen Sonnengarten. Alles! Ich danke euch!» sprach Harald, der während der Rede aufgestanden war und nun unter tosendem Applaus gefeiert wurde.

Es kam, wie Harald es plante. Das Anwesen wurde zur Herberge ausgebaut, es gab große Zimmer und kleine Zimmer. Im Hauptsaal der Herberge stellte Harald zahlreiche von ihm geschossenen Tiere aus. Schnell wurde die Herberge »Zum ehrfürchtigen Elch« bekannt und beliebt. Diplomaten auf der Reise nach Heldan oder Djorikstet machten nun hier und nicht mehr in Lenestet Rast. Die Holzpalisade um das kleine Dorf wurde weiter ausgebaut. Harald stellte Wachen ein. Auf einer Reise nach Kalamdor lernte er Lord Finnelor, Inhaber des großen Weinguts und der Brauerei Sonnentau kennen. Seitdem gibt es im »Ehrfürchtigen Elch« Sonnentau-Wein und Honigmet. Das Elch-Ragout, das Rega Hangbrison damals für die erste Delegation des Königs zubereitet hatte, wurde zum Hauptgericht. Lord Goldbart, wie sich Harald mittlerweile nun nennen durfte, bedient selbst gerne und oft in seiner Herberge. Der Laden von Ahmed Chaltour wurde in die Herberge integriert. Ahmeds Frau kochte nun südliche Spezialitäten. Auf einer Reise nach Al’Hrasalam, die Lord Goldbart zusammen mit einem chairoanischen Abenteurer namens Magrib Melthour durchgeführt hatte, schoss Harald einen Wüstenlöwen, der neben den imposanten Elchen im Hauptsaal ausstellt wurde. Auch wurde ein großer Garten mit zahlreichen heimischen und anderen Kräutern angelegt.

Soldheim ist zu einer wichtigen Stadt herangewachsen, die Herberge zu einem Ort des Zusammenkommens und des Austauschs. Man erzählt sich Geschichten und fachsimpelt über die schwierige Situation zwischen Bruga und Heldan. Des öfteren kehren auch Spione aus einem der beiden Herzogtümer im »Ehrfürchtigen Elch« ein. Der König aus Djorikstet ist stolz auf die nunmehr kleine unabhängige Stadt. Bei Reisen in den Süden macht er hier gerne Rast und wird großzügig bewirtet.

Manchmal, nicht oft, packt Lord Goldbart die Lust auf die Jagd zu gehen. Leise schleicht er sich dann bei einer warmen Vollmondnacht unter das von Sternen bedeckte Firmament, wie damals, als für den jungen Mann alles begann. Leise schleicht er sich an den Wachen vorbei, vorbei am Weiher, wo die Glühwürmchen tanzen, durch den Wald hindurch auf seine Lichtung, dem Wolfsgeheul lauschend, nur er, sein Bogen und die ruhige Jagdnacht.

Zuletzt geändert: 6/13/2020, 12:46:51 PM